Eine mittelalterliche Burg namens ORF

2021 ist für den ORF ein entscheidendes Jahr. Es geht um Macht und Einfluss der ÖVP und um Relevanz und Überlebensfähigkeit des ORF. Das Vermächtnis von Langzeit-Chef Wrabetz ist, den ORF als Burg gefestigt zu haben.

Ein neues ORF-Gesetz soll kommen. Die Generaldirektion steht im August 2021 zur Wahl. Es geht um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rund- funks in Österreich. Eine solche Zukunft gibt es nur als modernes Medienunternehmen, nicht aber als eine mittelalterliche Burg. Dafür braucht es einen grundlegenden Kulturwandel.

Derzeit sieht die Kultur so aus: Die Zentrale des ORF liegt oben auf einem Berg. Da ist ein Burgtor, hier muss einem Einlass geboten werden. Vor dem Eingang: der Burggraben, ein großes Wasserbecken. Das Innere ist verwinkelt, unübersichtlich. Dort, wo sich selbst ernannte Burgfräuleins und Burgherrn die Klinke in die Hand geben, ist Intrige Alltag. Ganz oben sitzt der Generaldirektor, ein treuer Diener der Herrschenden. Er hat 2020 die Burg ordentlich ausgebaut: Radiostationen (FM4, Ö1) sind auf den Berg kommandiert worden, an einem trimedialen Newsroom wird gebastelt.

Wir verbreiten die Kunde

Der ORF der Vergangenheit informiert und unterhält mit der Haltung: Wir reiten durchs Land und verbreiten die Kunde. Wir hier senden, ihr dort (das Volk) empfangt und zahlt. Verwaltet nach dem Top-down-Prinzip, von oben herab wird bestimmt, was ist und wie es zu sein hat. Sowohl gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als auch gegenüber den Empfängerinnen und Empfängern. Also uns.

Eine Burg ist ein Gebäude im Kampfmodus. Aber es gibt hier nichts zu kämpfen. Im Gegenteil. Eine kluge öffentlich-rechtliche Medienorganisation verbündet sich aktiv mit sämtlichen Akteuren (Mitarbeitern, Mitbewerbern, der Bevölkerung), um den Medienstandort zu entwickeln. Für ein lebendiges Ökosystem journalistischer, kultureller und unterhalten- der Inhalte aus Österreich.

Ein permanentes Festival

Die Zukunft ist ein Wiener Kaffeehaus. Ein Zentrum im Zentrum. Mit guter öffentlicher Anbindung in alle Himmelsrichtungen der Stadt und des Landes. Durch große Fenster strömt Licht hinein, von außen kann man mitverfolgen, was drinnen passiert. Es wurlt. Man kommt miteinander ins Gespräch. Verabredet und zufällig. Es entstehen Ideen. Es wird geschrie- ben, getratscht, gelesen, diskutiert, gedacht, gezeichnet, gespielt, ge- trunken, gestritten. Journalistinnen und Journalisten treffen auf Kreative, Experten, Herausgeber, Autoren, Produzenten und die interessierte Bevölkerung. Manche wandern von Tisch zu Tisch. Unterschiedliche Menschen tragen Geschichten von überall herein. Im Keller ist eine Bühne. Es finden Reden, Vorträge und künstlerische Darbietungen statt. Ein Oberkellner bemüht sich darum, dass alle möglichst gut miteinander ins Gespräch kommen. Er schafft einen Rahmen und eine Atmosphäre, die das Zusammenwirken fördern. Dabei entstehen Inhalte.

Der ORF als Kaffeehaus ist so etwas wie ein permanentes Festival. Es informiert und unterhält mit der Haltung: Wir hören und sehen einander, wir lernen voneinander und miteinander. Wir versuchen uns zu begreifen. Geführt wird nach dem Prinzip „mehr Zusammenarbeit ermöglichen“, denn diese „ergibt sich nicht von selbst. Sie muss den Menschen und den Umständen oft mühsam abgerungen werden“, sagt Managementberater und Buchautor Reinhard K. Sprenger.

Cafe Hawelka, Wien. Photographie um 1982
© IMAGNO/Franz Hubmann

Drei Spielfelder für den kulturellen Wandel des ORF:

Zusammenarbeit: Der amerikanische Soziologe Robert Putnam sagt, dass es für die Bereitschaft von Menschen, miteinander zu kooperieren, Vertrauen benötigt. Es sind möglichst viele formelle und informelle Gelegenheiten des direkten Austauschs, die gemeinsames Verstehen und damit Vertrauen und Kooperation fördern. Radiojournalisten mit Dreh- buchautorinnen, Praktikant mit Generaldirektor, Archivarin mit Online-Journalist, Reinigungskraft mit Chefredakteurin. Sport mit Kulturabteilung. ORF-TV mit Servus TV, Puls4 oder Okto TV. Radiostationen mit privaten Zei- tungsverlagen. Der primäre Anspruch zur Zusammenarbeit gewinnt gegen die Triebfeder Konkurrenz. Eine (öffentlichrechtliche) Medienorganisation kann nur als partnerschaftliches Unternehmen überleben, das in höchstem Maße vernetzt denkt und lenkt.

Personal: Wie das in einer Burg so ist, komme ich schwer hinein, bin ich dann einmal drinnen, komme ich auch schwer wieder hinaus. Durchlässigkeit und Mobilität von Personal ist erfolgsentscheidend und steuerbar. Die für den ORF arbeitenden Menschen sollten in ihren politischen Einstellungen und ihren Lebensrealitäten möglichst unterschiedlich sein. Es braucht Programme, die laufend und aktiv interessierte Quereinsteiger und junge ambitionierte Menschen an- sprechen und die beste Ausbildung „on the job“ bieten. Dabei sollten viel mehr Menschen ausgebildet werden, als die Organisation selbst übernehmen kann. Wenn andere Medienorganisationen aus dem In- und Ausland dem ORF konstant die selbst ausgebildeten Talente abwerben, ist der Beitrag zum Ökosystem gelungen.

Inhalte: Der ORF definiert sich historisch bedingt über seine hoheitliche (Sendungs-)Technik und Infrastruktur. In der Gegenwart braucht es eine andere Selbstdefinition. Über pluralistische Inhalte: erzählt in speziellen Formaten für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, verbreitet über verschiedene Kanäle. Neben medialen Großereignissen und Gemein- schaftserlebnissen liegt es nahe, spitzere Formate mit und rund um Talente zu entwickeln. Zuerst nur digital veröffentlicht, bauen sie sich so eine relevante Audience auf und finden dann gegebenenfalls ihren Weg ins Programm eines Radio- oder TV-Senders. Punktuell könnten redaktionelle Prozesse zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern gestaltet werden. Das ORF-Archiv der Österreicherinnen und Österreicher gehört geöffnet und online zugänglich gemacht. Es braucht groß angelegte spannend gemachte Bildungsprogramme, die sämtliche Altersgruppen in der Fähigkeit zur Mediennutzung schulen. Und gebt auch den Kindern das Kommando.

Der ORF hat große Zukunft

Das große Vermächtnis des derzeitigen Langzeit-Generaldirektors Wrabetz ist es, in Zeiten größten gesellschaftlichen und technischen Wandels den ORF als Burg gefestigt zu haben. Da hilft der kosmetische Eingriff eines trimedialen Newsrooms nichts. Die Verwandlung des ORF braucht Füh- rungskräfte, die Kreativität und Unternehmungsgeist, Mut und Biss mitbringen. Wie etwa die neue von den Neos entsandte unabhängige Stiftungsrätin Anita Zielina. Eine fachlich kompetente, international erfahrene Medienmanagerin mit Schwerpunkt auf digitaler Transformation.

Dem ORF als Kaffeehaus, als journalistisch und kulturell pluralistische Plattform, als partnerschaftliche Medienorganisation blüht eine große Zukunft. Getragen von uns Bürgerinnen und Bürgern.

Hinweis: Dieser Text erschien am 28.01. 2021 auch in der Zeitung Die Presse