Es ist Zeit für ein Regierungslabor

Von Isabella Gady und Milo Tesselaar

Warum Österreich genau jetzt ein Labor für mutiges Regieren braucht. Es geht um einen kulturellen Wandel in der Regierungspolitik.

„Ein ,Weiter wie bisher‘ darf es nicht geben und wird es mit uns auch nicht geben“, erklärte Bundeskanzler Karl Nehammer anlässlich der laufenden Koalitionsgespräche. Teil der Verhandlungen ist auch die Sonderverhandlungsgruppe „Reformen und Neu Regieren“. Die Arbeitsweise der Regierung und ihre Koordination stehen im Fokus dieser Gruppe.

Doch um ein „anderes Regieren“ nachhaltig zu erproben und zu etablieren, braucht es eine dauerhafte, wissenschaftlich begleitete Struktur, die systemische Herausforderungen angeht, Innovationen auf eine strukturelle Ebene hebt, Lehren aus der Praxis zieht und gleichzeitig neue Wege im Regieren aufzeigt. Kurz: Österreich braucht ein Regierungslabor.

Was ist das? Im Grunde eine überparteiliche Organisationseinheit, die sich darauf spezialisiert, die Gepflogenheiten des Regierens neu zu denken und durch innovative Ansätze und Methoden weiterzuentwickeln. Anders als klassische Thinktanks würde ein solches Labor Analyse, Experiment und Praxis miteinander verbinden – außerhalb des Regierungsalltags, aber in sehr enger Zusammenarbeit mit Kanzler, Vizekanzler und den Ministern und Ministerinnen. Es geht darum, einen kulturellen Wandel in der Regierungspolitik möglich zu machen, hin zu mehr Offenheit, Effektivität, Anpassungsfähigkeit, Lernbereitschaft und langfristigem Denken.

Regieren in komplexen Zeiten

Wirtschaftskrisen, Klimawandel, Pandemien, Kriege und geopolitische Umbrüche – unsere Zeit ist geprägt von vielschichtigen Herausforderungen, die miteinander verflochten sind. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen in demokratische Institutionen, während populistische Kräfte diese Unsicherheiten gezielt für sich nutzen. Um tragfähige Politik zu gestalten, müssen Regierungen nicht nur die gesellschaftliche Komplexität akzeptieren und verstehen, sondern auch in der Lage sein, diese in effektive, nachvollziehbare Maßnahmen zu übersetzen. Das erfordert Institutionen, die langfristiges Denken ermöglichen und systemische Herausforderungen adressieren können.

Die Wurzeln der heutigen Bürokratie reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Sie wurde einst geschaffen, um strukturelle Stabilität von einer Herrschaft in die nächste zu gewährleisten – eine damals revolutionäre Idee. Doch viele dieser Strukturen sind den heutigen komplexen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Der Staat entfremdet sich zusehends vom Bürger. Er kann dessen Grundbedürfnisse nicht mehr adäquat oder schnell genug decken. Spürbar wird das bei langen Wartezeiten bei öffentlichen Serviceleistungen – von Anträgen bis Arztterminen – und unverhältnismäßigem bürokratischen Aufwand. Ohne grundlegende Reformen verlieren demokratische Institutionen das Vertrauen und die Legitimität. Es geht also um mehr als um besseres Regieren: Es geht darum, Demokratie funktionsfähig zu halten und den Bedürfnissen der Bürger und Bürgerinnen gerechter zu werden.

Eine Institutionalisierung – in diesem Fall in Form eines Labors – legt den Grundstein für nachhaltige und systemische Lösungen, indem sie Innovations- und kreative Prozesse im Regierungsalltag strukturiert und langfristig verankert. Eine institutionalisierte Herangehensweise und Organisationsentwicklung ermöglicht es, die Komplexität moderner Herausforderungen umfassend zu adressieren. Dabei geht es nicht um die eine große Lösung für alles und alle, sondern um viele kleine Handlungsoptionen im Regierungsalltag.

Wie man nicht mehr zeitgemäße Strukturen loswird, schilderte kürzlich die „Stanford Social Innovation Review“. Darin wird aufgezeigt, dass Fortschritt oft erst möglich wird, wenn unwirksame, veraltete Projekte, Programme und Maßnahmen beendet werden, um Raum für Neues zu schaffen. Ein Beispiel ist die Initiative „Stewarding Loss“, die illustriert, wie Organisationen durch gezielte Beendigungsprozesse wertvolle Ressourcen freisetzen, Platz für Neues schaffen sowie Transformation und systemisches Lernen fördern.

Was könnte ein Regierungslabor konkret leisten?

Langfristige Szenarien entwickeln: Vorausschauendes Denken als gängige Praxis etablieren. Das Regierungslabor kann Szenarien entwickeln, die möglichen Entwicklungen durchspielen und Entscheidungsträger:innen strategisch besser vorbereiten.

Bürger:innen beteiligen: Politik wird besser, wenn Bürgerinnen und Bürger aktiv in Lösungs- und Entscheidungsfindung eingebunden werden. Vielerorts erprobt, u. a. durch die Co-Creation-Prozesse des Laboratorio de Gobierno in Chile oder die partizipativen Methoden des UK Policy Lab.

Führungskräfte fördern: Führung in unsicheren Zeiten erfordert Anpassungsfähigkeit und Lernbereitschaft. Ansätze wie „Humble Governance“ von Demos Helsinki zeigen, wie Führungspersönlichkeiten unterstützt werden können, Unsicherheiten zu navigieren und innovative Denkweisen zu entwickeln.

Innovationen beschleunigen: Strategien aus den Verhaltenswissenschaften und Methoden wie Design Thinking, Agile Prototyping und Gamification könnten politische Prozesse effektiver machen, um schneller auf Veränderungen zu reagieren und kreative Lösungen zu entwickeln.

Stakeholder vernetzen: Die strukturierte, effektive Einbindung von Stakeholdern und das Ermöglichen von interdisziplinärem Denken und Zusammenarbeiten ist in einem komplexen Umfeld entscheidend, um erfolgreich politische Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Ein solches Regierungslabor würde überparteilich strategisches Vorausdenken, interdisziplinäres und intersektorales Arbeiten, partizipative Prozesse und innovative Lösungsansätze vereinen. Mit ergänzenden Wirkungsanalysen und Leadership-Entwicklung könnte eine flexible, evidenzbasierte Politik entstehen, die nicht nur auf Herausforderungen reagiert, sondern aktiv neue Wege ermöglicht.

Ein Netzwerk der Zukunft: Ein Regierungslabor müsste nicht isoliert gedacht werden. Es könnte Teil eines nationalen Labor-Netzwerks sein, das jenes der Regierung, des Parlaments und der Verwaltung verbindet. Jede dieser unabhängigen Organisationseinheiten adressiert spezifische Bedürfnisse. Ein Regierungslabor unterstützt die Regierung, Ministerien und Kabinette. Ein Verwaltungslabor fördert Innovationen in der öffentlichen Verwaltung und begleitet Bundesbedienstete (bereits erprobt als GovLab Austria). Ein Parlamentslabor unterstützt Abgeordnete auf nationaler, regionaler und EU-Ebene. Alle drei sollten wiederum international mit verwandten Labs, Think- und Do-Tanks in Europa vernetzt sein.

Taten statt Worte

Nehammer und Babler haben recht: „Ein ,Weiter wie bisher‘ darf es nicht geben.“ Jetzt gilt es, dass ÖVP, SPÖ und Neos den Worten Taten folgen lassen. Institutionelle Veränderungen beginnen durch das Initiieren von neuen Kommunikationsräumen, Strukturen und Organisationsformen sowie entsprechenden Ressourcen. Ein Regierungslabor könnte die Grundlage für eine mutige, lernfähige und zukunftsorientierte Regierungspolitik schaffen.

Hinweis: Dieser Text erschien am 04.12. 2024 auch in der Zeitung Die Presse